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Gemeinsam gedenken: Buchbesprechung zu „Sweet Occupation“ von Lizzie Doron

Es ist ein emotionaler und widersprüchlicher Einstieg. Das Buch fängt mit dem Vorabend des Gedenktages an, dem Tag der Erinnerung – Remembrance Day, Yom HaSikkaron – mit der Begegnung mit einem Palästinenser, bei der Abholung von gutem arabischen Essen, gekauft für die Party am folgenden israelischen Unabhängigkeitstag, gegenüber dem Eingang zur Gedenkveranstaltung der Friedenskämpfer. Das hat mich natürlich elektrisiert. In meiner Arbeit als Friedens- und Konfliktberater spielten die Friedenskämpfer und die Gedenkveranstaltung eine wichtige Rolle.

Gedenken, Krieg und Feindschaft

Dieser Tag ist gerade für säkulare Israelis der heiligste Tag, wichtiger noch als der Nationalfeiertag – Yom HaAtzma’ut, „Independence Day“. Am Gedenktag davor wird der Gefallenen und der Terroropfer gedacht, jede Kommune hat Gedenkfeiern auf den Friedhöfen, die oft Abteilungen für Gefallene haben. Die Ansprachen auf diesen Gedenkfeiern betonen meistens die Stärke Israels. Zugleich liegt Traurigkeit über dem Land. Härter kannst du nicht einsteigen, noch deutlicher kannst die besondere Schwere des Falles nicht betonen.

Mohammed muss das verstehen, ich gehe nur bis zur Grenze, ich bin die Spitze des mainstream, ich bin seine Verkörperung.

Lizzie Doron: „Sweet Occupation“, S.100

Das Buch erzählt dokumentarisch, und es ist auch dokumentarisch. Die Fakten stimmen, auch was ich selbst über die Lochamim LeShalom – Muqatilien Min Adschil A-Salam („Combatants for Peace“) aus meiner Arbeit weiß. Ich habe viel Neues erfahren aus den persönlichen Schicksalen, das stimmt. Wenn Dokumentationen besonders gut und mutig sind, die schmerzhaften Punkte genau treffen, denke ich immer: Genau das ist es! Wenn es nicht so eingefangen worden wäre, hätte es die Berichterstatterin – oder dann die Autorin – eben erfinden müssen. Beim Lesen dieses Buches ging es mir ständig so.

Biographien und Erinnerung

Erfinden muss die Autorin allerdings nichts. Ihr erstes Buch schrieb Lizzie Doron über ihre Mutter, eine Holocaust-Überlebende, und wurde dafür von Yad VaShem, der staatlichen, israelischen Shoah-Gedenkstätte in Jerusalem, ausgezeichnet.

Lesung auf dem Kultursommer Schleswig-Holstein 2018 auf www.kultur-port.de

Bei „Sweet Occupation“ ist aber etwas anders: Die Jugendzeit der Autorin – und darin ist das Buch autobiographisch – ist verwoben mit den Schicksalen der anderen, Kämpfer auf israelischer Seite und palästinensischer Seite – darin ist das Buch eine Sammlung von Biographien. Die tragische Verbindung aller entsteht durch den Konflikt. Die Erfahrung von Gewalt ist allen gemeinsam. Auch die Autorin steckt selbst in dieser Tragik drin.

Ich muss jetzt hier ein Geständnis ablegen: Ich habe vor-geblättert. Es war einfach zu spannend! Für mich war auf den ersten Seiten bald klar, dass es hier um Unmögliches geht. Eine israelische Frau, im israelischen säkularen Schulsystem groß geworden, trifft palästinensische Freiheitskämpfer? Dieses Schulsystem betont die nationalen Rechte des jüdischen Volkes, aber auch die absolut gesetzte Notwendigkeit, das Vaterland mit Gewalt zu verteidigen. Gleich nach der Schule legen die Schüler, und Schülerinnen, den Schwur ab, den Staat Israel zu verteidigen.

Was ist mutig?

Israelische Soldaten sind Helden, palästinensische Kämpfer können in diesem Weltbild nur Terroristen sein. Es ist unmöglich, dass eine israelische Bürgerin einen von der anderen Seite trifft, von dem sie weiß, er hat Gewalt gegen ihr Volk ausgeübt. Diese Begegnung, dieses Zuhören darf nicht sein. Diese Begegnung braucht Mut. Und genau das macht die Autorin deutlich.

„Was tut dir leid? Hör doch erst mal zu. Ihr habt keine Geduld zum Zuhören, ihr kommt sofort zu Einsichten, und dann tut euch etwas leid, was euch nicht leid zu tun braucht.“

Mohammed, in: Lizzie Doron, „Sweet Occupation“, S.38

Alisa ist Teil einer gut funktionierenden Jugendgruppe. Die Jungs und Mädchen ergänzen sich. Sogar in der Kommunikation: Die nachdenklichen, unterbrochenen Sätze werden ergänzt, zu solchen, die vermeintliche Schwäche aufdecken, Fragen ersticken, die gemeinsame Konvention stärken. Dann kommt Emil dazu, der zunächst immer ausgelacht wird. Er ist anders, ruhiger und gelassener. Er sieht die Dinge klarer. Emil, der Polacke genannt wird, hat einen nicht-hebräischen Namen, er kennt europäische Traditionen, Geschichte und Erkenntnisse. Er kommt aus der Diaspora, ist nicht im Land aufgewachsen. Er fragt nach, was wirklich mutig ist. Und Emil wird noch eine wichtige Rolle spielen.

„Ich sah keine Alternative, das war mein Weg, der Weg war der Auftrag der einen Generation an die nächste. Ich meldete mich zu einer Panzereinheit, ich konnte nicht anders.“

Chen, in Lizzie Doron: „Sweet Occupation“, S.87

In der Welt israelischer Konventionen ist Zweifel am Militär ein Ding der Unmöglichkeit. Deshalb habe ich also vorgeblättert, was ich sonst immer vermeiden will, und fast immer auch schaffe. Hier nicht. Vorsicht, Spielverderber! Achtung, Spoiler! Wer nicht wissen will, wie das Buch enden könnte, liest erst den über-nächsten Absatz weiter! Ich blätterte vor und traf genau auf die Schilderung der Erinnerungszeremonie der „Combatants for Peace“ und des Familienforums.

Schmerz und Trauer miteinander teilen

Das Familienforum „Family Forum“ hieß früher „Parents Circle“, dort treffen sich Familien, die Angehörige im Konflikt verloren haben. Ich meine Familien beider Seiten, der Feinde! Das Familienforum versteht sich wie die „Combatants for Peace“ als bi-nationale Bewegung. Da wusste ich: Dieses Buch kann ich weiterlesen, es wird definitiv etwas Unvorstellbares passieren.

Nicht weit von mir, oben auf dem Felsen, saß Emil, in eine topographische Karte vertieft. „Ich suche uns einen anderen Weg hinaus aus diesem Wahnsinn“, sagte er und strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht.

Lizzie Doron: „Sweet Occupation“, S.72

Ansprache des israelischen Schriftstellers David Grossmann in der Gedenkveranstaltung 2018 (auf forumZFD.de)

An der Gedenkveranstaltung konnte ich einmal teilnehmen. Ich war sehr bewegt, ich glaube wie alle, die dabei sein dürfen. Vier persönliche Ansprachen, Geschichten von Verlust, Schmerz, Trauer und Veränderung werden miteinander geteilt. Alles geschieht in den beiden Sprachen, Hebräisch und Arabisch. Zuhören, Mitfühlen und Schmerz aushalten ist zentral in dieser Gedenkveranstaltung. Die Moderation 2015 berührte mich schon allein deswegen, weil der palästinensische Friedens­kämpfer Hebräisch sprach, die israelische Friedenskämpferin Arabisch. Er, Jamil, hatte seinen kleinen Bruder durch Gewalt verloren.

Die Seite der „Combatants for Peace“ (Englisch)

„Meine Mutter … bat mich, mein eigener Gott zu sein, mein eigener General, mein eigener Ministerpräsident, ich solle selbst entscheiden, wofür ich zu sterben bereit sei, falls überhaupt.“

Jamil, in Lizzie Doron, „Sweet Occuaption“, S.140

Diese Gedenk­veranstaltung „Sharing Sorrow, Bringing Hope“ hat eine zentrale Bedeutung für die Menschen in den beiden Bewegungen gewonnen. Inzwischen wird die Veranstaltung im Internet mit englischen Untertiteln übertragen, Menschen in verschie­denen Ländern treffen sich, schauen gemeinsam.

Hier die Live-Übertragung der Gedenkveranstaltung 2020
auf dem YouTube-channel der Combatants for Peace,
in Hebräisch und Arabisch mit englischen Untertiteln.
(Unter „activism“ auch auf der Website der Combatants for Peace verlinkt.)

Hier kannst du weiter lesen. Das Ende habe ich zwar nicht verraten, aber ab jetzt bleibe ich allgemein. Die Autorin ist ganz offen darüber, wie das Buch entstanden ist: Sie beschreibt komplett ihre Kommunikation mit den verschiedenen Ex-Combatanten / ehemaligen Kämpfern. Die hatten ihren Erfolg „Who the Fuck is Kafka“ erlebt und gedacht: Hey, die ist offen und mutig genug, etwas über uns zu schreiben. Und erfolgreich natürlich! Doch anfangs kann sie das nicht: Mit Verrätern, also Soldaten, die den Wehrdienst in den Besetzten Gebieten verweigern, kann sie nicht sprechen. Mit Kämpfern von der feindlichen Seite, also Terroristen, kann sie nicht essen. Erst langsam wächst der Mut zur Veränderung.

Ich konnte nachts nicht mehr schlafen, ich quälte mich. Du musst den Dienst verweigern, sagte eine innere Stimme, die mich bedrängte. Aber wie konnte ich meine Kameraden allein an die Front schicken? Was würde mein Vater sagen? Meine Frau? Meine Nachbarn? Du weißt ja, wie wichtig es ist, okay zu sein.

Chen, in Lizzie Doron: „Sweet Occupation“, S. 166

Das Schicksal der Anderen – mutig miteinander gedenken

Die Erinnerungen der ich-Erzählerin, oder der Autorin, sind verwoben mit dem Kennenlernen der Schicksale auf der anderen Seite, Schicksale der palästinensischen Kämpfer, mit den Schicksalen der israelischen Kämpfer, der Soldaten der eigenen Seite in diesem gewaltsamen Konflikt. Die Autorin entwickelt darin das Vor-und-Zurück nicht nur des eigenen Ich, des eigenen Geistes, sondern auch der eigenen Seele. Denn die ist gefangen im Schmerz der Gewalttaten, gegen Freundinnen und Freunde, gegen die ehemaligen Klassenkameraden, die als Soldaten im Kampf verwundet oder getötet wurden.

„Die Gespräche mit ihnen zerstörten die Geschichte, die ich mir selbst erzählt hatte.“

Lizzie Doron, „Sweet Occupation“, Prolog, S.9

Zugleich deckt Lizzie Doron in Rückblicken auf, wo Gewalt, das unbedingte Sich-Durchsetzen in ihrem eigenen Leben Verwundungen zurück gelassen hat. Diese drei Ebenen, die Leben der Kämpfer, der eigene Weg aus Schmerz, Abschottung und Feindbildern, und die Wurzeln der Identität, die Jugendgruppe und die erste Liebe, werden von der Autorin in Beziehung gesetzt, gegenübergestellt und erhellen sich gegenseitig. Das gelingt. Damit gehört das Buch „Sweet Occupation“ zu meinen 7 wichtigsten Büchern aus Israel.

Meine 7 wichtigsten Bücher aus Israel (diese Liste erstelle ich gerade)

Ausführliche Rezension von Professor Heekerens auf socialnet.de

Dass das Buch auf Englisch veröffentlicht wurde, und jetzt auch auf Deutsch – nicht in Israel – ist etwas schockierend. So schwierig ist es im demokratischen Israel geworden, sich außerhalb des nationalen Konsens zu stellen. Dennoch bin ich anders als Professor Heekerens nicht der Meinung, dass das Buch für Menschen mit Lieblingsort „Zwischen den Stühlen“ ist. Auch in Deutschland, wo viele so genau wissen, wer Schuld ist an dem Konflikt im Heiligen Land, ist die Lektüre hilfreich, für alle. Lizzie Doron saß nicht zwischen den Stühlen, sondern war ganz klar ausgerichtet. Richtig: Wandel braucht viel Mut! In diesem Fall, mit diesem Buch, ist es der zweifache Mut: Den Weg der Transformation zu gehen, und diesen Weg der Veränderung für alle zu beschreiben. Du kannst es nachlesen. Im übrigen bin ich überzeugt, dass wir mit aufmerksamen Zuhören weiter kommen.

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Lizzie Doron hat – neben Büchern über Familie, Shoah-Überleber und die 50er in Israel – ein weiteres Buch über die Begegnung mit einem Palästinenser geschrieben: „Who the fuck is Kafka?“ Als eBook bei Hugendubel bestellen. * Affiliate Link

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