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Chancen und Herausforderungen der Tourismusentwicklung in einer Konfliktzone

Als ich zum zweiten Mal nach Battir kam, war mein Blick auf die Geschichte gerichtet. Und zwar in die Antike. Was ich dann aber sah, war überraschend schön: Ein ruhiges Dorf, am Berghang, mit Bäumen zwischen den Häusern, grünen, weil bewässerten Terrassen, und mit weiten Blick das Tal hinauf. Das hatte ich fast vergessen. Aufregend war auch die Nähe zur Demarkationslinie – also der Grenze des Westjordanlandes zu Israel, die so unglaublich nahe schien. Ja, es war geradezu verwirrend. Denn wo war dieses Waffenstillstandslinie genau? Dass sich hinter dieser Frage eine unglaubliche Geschichte verbirgt, wusste ich in diesem Moment noch gar nicht!

Das Beispiel Battir und
das UNESCO Welterbe „Olives and Vines“

Diese Geschichte vom kreativen Widerstand reicht bis ins Heute hinein. Sie ist ein Vermächtnis und eine Aufgabe für die heutigen Bewohner. Denn ohne die damaligen Aktionen gäbe es das Dorf gar nicht mehr. Und zugleich ist es eine Geschichte, die für die Gegenwart Hinweise gibt, was zu tun ist. Die Idylle von heute ist bedroht. Weil es möglich ist, Touristen hierher zu bringen, und Besuchern diese Geschichte – vielleicht sogar noch mehr Geschichten – zu erzählen, darum habe ich einen wissenschaftlichen Artikel geschrieben. Ich behaupte in diesem Artikel unter anderem, dass Narrative, dass Geschichten erzählt werden müssen, damit Tourismusentwicklung gelingen kann und zugleich diesem Vermächtnis gerecht wird.

Eine Zusammenfassung des Artikels in der Ausgabe „Tourism and Cultural Dynamics“ des Journals „Tourism, Culture & Communication“ finden Sie hier (auf Englisch).

Weil für die Mehrheit der Palästinenser die Ereignisse 1948, Vertreibung, Zerstörung und Verlust, bis heute eine höchst traumatische Sache sind, könnte man sagen: Nein, das wollen wir nicht schon wieder hören, oder schon wieder erzählen. Ich möchte sagen: Doch. Nicht nur, dass diese Geschichte erzählt werden muss, um die Situation vor Ort, und um die Menschen dort überhaupt zu verstehen. Sondern auch, weil – vor dem Hintergrund dieser traumatischen Ereignisse – eine andere Geschichte, eine Erfolgsgeschichte nämlich, erzählt werden muss.

In den 1950ern können die Bewohner des Dorfes ihr Battir schöner und zugleich zukunftsfähig machen: gemeinschaftliche Arbeit und Selbsthilfe für Entwicklung – eine spannende Geschichte.

Ich meine, sie muss erzählt werden, und dafür argumentiere ich in meinem Artikel. Ich behaupte, diese Geschichte gehört zu diesem Dorf dazu. Das Dorf Battir gibt es nur deshalb noch als lebendiges Dorf, weil es kreativen Widerstand gab! Und: Auch auf dem Hintergrund von An-Nakba – so nennen die Palästinenser „die Katastrophe“ 1948 – muss diese Geschichte nicht zu dunkel sein. Schließlich erzählt diese Geschichte von mutigen, geradezu unglaublichen Aktionen der Bewohner des Landes.

Eine Geschichte, die Mut macht
inmitten der Katastrophe

Zu einem „Schwarzen Tourismus“ (black tourism) wird es hier nicht kommen. Nicht etwa, weil Trauer und Schmerz im Tourismus nicht vorkommen dürfen. Erinnerung an schreckliche Ereignisse können immer zu Verantwortung und Zukunft führen. Nicht umsonst geht jede deutsche Besuchergruppe auch nach Yad VaShem, oder in eine andere Shoa-Gedenkstätte. Hier in Battir geht es um eine nicht minder große Frage: die Frage nach Widerstand, Gewalt und Kreativität.

Nicht zuletzt kann kreativer Widerstand unterdrückte Menschen erfolgreich darin unterstützen, ihre Geschichte auf neue Weise und in neuen Formen zu erzählen.

Mitri Raheb 2014 in seinem Buch „Glaube unter imperialer Macht“, S.193

Wie stellen wir sicher, dass diese Geschichte erzählt wird? Wie stellt Battir sicher, dass seine ureigenste Geschichte in einem Besuch vor Ort auch wirklich vorkommt? Darüber schreibe ich in einem Gastbeitrag beim Arbeitskreis Palästina in Brühl bei Bonn, der sich vor allem mit der Partnerstadt Brühls in Palästina beschäftigt: Battir. Dort behandele ich – wie auch in meinem wissenschaftlichen Artikel – das Thema Tourismusentwicklung in einem Konfliktgebiet.

Es gibt viele Gründe, nach Battir zu reisen – hier erkläre ich sieben Gründe.

Allerdings ist die Geschichte vom kreativen Widerstand in Battir nicht einfach. Sie ist nicht einfach zu erzählen, und beim Nachvollziehen lohnt es sich, aufmerksam zuzuhören. Leider werden diese Geschichten selten ausführlich und genau genug erzählt, auch vor Ort nicht. Zum anderen gibt es durchaus auch dort Vorbehalte und Diskussionen: War der Preis zu hoch? Will ich diese Geschichten überhaupt hören oder gar erzählen?

Die Eisenbahn als Lebensader
und als Bedrohung eines Dorfes

Bis heute haben die Bewohner Battirs eine positive Einstellung zur Eisenbahn durch ihre bewässerten Felder. Doch das ist nicht alles: Die Ortschaft hat ihren Zugang zur Eisenbahn 1948 komplett verloren. Die Menschen aus Battir, die für die Eisenbahn arbeiteten, haben damals ihre Arbeit verloren. Aber auch die Pendler, Studierenden und die Bäuerinnen waren betroffen. Trotzdem schützen sie die Eisenbahn bis heute, und halten sich an die Vereinbarung von 1949.

Eine ausführliche Darstellung der Aktionen in Battir, die Hasan Mustafa anregte und durchführte, stellt Jawad Botmeh in seiner Forschungsarbeit dazu dar. Du findest sie hier (auf Englisch).

Wenn wir bedenken, dass Battir eine Bahnstation hatte, dass Menschen aus Battir dort für die Eisenbahn gearbeitet haben; wenn wir bedenken, dass Battir Verbindungen zur religiösen und kulturellen Hauptstadt Palästinas, Jerusalem hatte, zur Hafenstadt Jaffa, zum zentralen Bahnhof Lid / Lod, von dem aus Kairo / Al-Qahira und Beirut und Damaskus / Dimaschq per Anschluss erreichbar waren; wenn wir bedenken, dass Battir und die umliegenden Dörfer vor 1948 Jerusalem direkt und frisch mit Gemüse, Kräutern und Früchten versorgen konnte – wenn wir das alles bedenken, dann ist der verlorene Zugang zur Eisenbahn ein sehr, sehr großer Verlust für Battir, ein hoher Preis für das Überleben gewesen.

Selbsthilfe eines Dorfes in der Konfliktzone: Entwicklung und Bildung

Plötzlich war Palästina geteilt, die Handelswege unterbrochen, die Eisenbahnlinien verschenkt, die Einwohner vertrieben, viele Dörfer verloren. Battir lag plötzlich in einer Konfliktzone. Aber es gab das Dorf noch! Die Reaktion auf den Verlust der Eisenbahnstation war eine große Anstrengung der Gemeinschaft in den 50er Jahren. Dabei ging es um Lebensgrundlagen und neue Möglichkeiten, Einkommen zu generieren. Dabei ging es um Gemeinschaftsarbeit und Bildung für Mädchen und Frauen. Und es ging um die Verbindung zur Welt und das Gesundheitswesen. Über diese Arbeit, Zukunft für das Dorf Battir zu schaffen, liest du hier.

Battir is a living example of what a community can do to help itself.

Hasan Mustafa 1959 in seinem Buch „Welcome to Battir“

Seit 1947 spätestens, liegt Battir in einer Konfliktzone. Und zwar paradoxerweise deshalb, weil es an einer Eisenbahnstrecke liegt, die damals hohen strategischen Wert besaß. Der Vorteil des Bahnhofs droht sich ins Gegenteil zu verkehren. Battir kann die Umstände nutzen, um kreativen Widerstand zu leisten. Deshalb meine ich, diese Geschichte muss Konflikt-transformatorisch erzählt, ja erklärt werden. Konflikttransformation, also (zivile) Konfliktbearbeitung, geht aktiv mit Ursachen eines Konflikts um und verändert, transformiert durch Arbeit die Situation in eine neue Situation.

Tourismusentwicklung in einer Konfliktzone: Kreativer Widerstand

Meist gelingt diese Transformation, diese Veränderung, durch Kommunikation, Dialog und dem Bruch mit typischen Handlungsmustern. Konflikttransformation und Tourismus überschneiden sich nicht einfach so automatisch. Es ist offensichtlich der Tourismus, der von der Abwesenheit von Gewalt profitiert. Dagegen ist in der Forschung nicht nachweisbar, dass Tourismus zum Frieden beiträgt. Doch ich bin auch überzeugt, dass die Geschichten vom kreativen Widerstand eine Chance sind, den Konflikt neu zu sehen und sein eigenes Verhalten zu hinterfragen.

Die Tourismusentwicklung kann auf eine positive Identität gründen. Tourismusentwicklung kann sich auf die eigenen Erfolge der Vergangenheit und der Gegenwart beziehen. Battir hat mit viel Aufwand die Antragstellung der „Abteilung für Archäologie und Kulturerbe“ des Palästinensischen Ministeriums für Tourismus und Kulturerbe bei der UNESCO unterstützt, diese Landschaft in Battir und zwischen Husan und Beit Dschala in die Liste des Welterbes aufzunehmen. Was für eine Chance, Menschen aus der ganzen Welt mit dem palästinensischen Kulturerbe und den Geschichten des Landes bekannt zu machen! Im übrigen bin ich überzeugt, dass wir mit aufmerksamen Zuhören weiter kommen.

Diesen Blogbeitrag auf andreas-kuntz.com kannst du kommentieren. Was denkst du darüber? Muss die unglaubliche Geschichte vom kreativen Widerstand erzählt werden?

Geteilte Geschichte(n) (Fortsetzung, in Arbeit)

7 Gründe warum es sich lohnt, Battir zu besuchen

Mein Gastbeitrag auf der Website des AK Palästina in Brühl (in Arbeit)

Die (englische) Zusammenfassung des Artikels „Battir: Creative Resistance in a Front Line—Opportunities and Dilemmas of Tourism Development in a Conflict Zone“

Eine Reise mit Wanderung nach Battir: Einerseits Erholung, andererseits die Geschichte vom kreativen Widerstand

Buchbesprechung Mitri Raheb: Glaube unter imperialer Macht (in Arbeit)

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