Angefangen hat es 1995 mit Fort- und Weiterbildung im Internationalen Begegnungszentrum Dar Annadwa Adduwaliyya („Haus der Begegnung“) in Bethlehem. Inzwischen gibt es die Fachhochschule für Kunst und Kultur Dar Al-Kalima („Haus des Wortes“). Und unter dem Dach von Diyar („Häuser“) findet Teamsport, Tanztheater und kulturelle Bildung für Kinder und Jugendliche statt, insbesondere für Mädchen. Auch GastgeberInnen, oder besser ReiseleiterInnen, werden in Bethlehem ausgebildet.
Die Ausbildung palästinensischer Tour Guides
von 1997 bis 2020
Aus diesem Anlass hat der Förderverein Dar Al-Kalima Akademie Bethlehem e.V. einen kleinen Band mit interessanten Artikeln herausgebracht. Dazu konnte ich einen Artikel über die Ausbildung von ReiseleiterInnen in Bethlehem beisteuern. Das ist die Gelegenheit, auf die Leistungen und Erfolge dieser Ausbildung zu blicken. Und auf unser (deutsches) Reiseverhalten dort vor Ort werfe ich auch einen Seitenblick. Mehr dazu später in diesem Beitrag.
10 Beiträge zur Arbeit von Dar Al-Kalima in Bethlehem
In der Zeitschrift für Dialog „Israel&Palästina“ des deutsch-isralischen Arbeitskreises für Frieden in Nahost, Ausgabe II-III 2020, schreiben Menschen, die vor Ort mitgewirkt haben oder geforscht und sich mit anderen in Bethlehem über Kultur, Theologie und Kunst auseinandergesetzt haben. Besonders interessant sind Perspektiven von Pfarrer Dr. Mitri Raheb, der die „Reise von Dar Annadwa nach Dar Al-Kalima“ anhand schwieriger Herausforderungen nachzeichnet. Das gilt auch für den Vortrag von Bischof a.D. Hans-Jürgen Abromeit, mit dem er im Bonhoefferzentrum Bielefeld 2019 die Stadt Bethlehem vorstellte – „Faszination und Konflikt: Das ambivalente Erbe einer Heiligen Stadt“.
Der Förderverein Bethlehem-Akademie Dar Al-Kalima e.V. unterstützt die Bildungsarbeit in Bethlehem.
Der deutsch-isralischer Arbeitskreis für Frieden in Nahost ist auch unter seinem Kürzel diAk e.V. bekannt.
Die Zeitschrift für Dialog „Israel&Palästina“ will Israel, Palästina und Deutschland zusammen denken.
Hinzu kommen Artikel über Fragen zu kontextueller Theologie, Konferenzen, Arbeit für Frauen, über das Frauen-Fussballteam, und über die Vereinsarbeit in Deutschland. Der Aphorisma-Verlag hat die 10 Artikel in einer Doppelnummer der Zeitschrift „Israel und Palästina“ veröffentlicht.
Hier können Sie die Ausgabe i&p II/III 2020 bestellen oder das Inhaltsverzeichnis herunterladen.
Ich möchte einen wichtigen Aspekt meines Artikels herausgreifen. Palästinensische kirchennahe Organisationen und Initiativen haben immer wieder gefordert, dass Besuchende, Pilger und Bildungsreisende, anders ins Heilige Land reisen sollen. Was haben aber die Menschen in Palästina dazu beigetragen? Konnten die Bildungsinstitutionen vor Ort einen Beitrag dazu leisten? Wozu wurden ReiseleiterInnen in Bethlehem ausgebildet? Was bieten Reiseleiter – Tour Guides – in Bethlehem an?
Hier geht es zu Informationen über anderes Reisen: Initiative für einen fairen Austausch mit Palästina auch im Tourismus
Die Einladung nach Bethlehem steht
Lange Zeit war Bethlehem in den Reiseprogrammen eine kurze Station zwischen Hebron und Jerusalem. Später wurde es zu einem halben Tag neben Besuchen in Jerusalem, in vielen Bildungsreisen neben Yad VaShem. Die Einladung und die Möglichkeit, unter anderen Vorzeichen nach Bethlehem zu kommen und dort mehr Zeit zu verbringen, gibt es schon länger. Bereits 1996 wurde Dar Annadwa für sein Angebot mit dem TODO! Preis für sozialverantwortlichen Tourismus ausgezeichnet. Unter dem Titel „Palästinas Fenster zur Welt“ hatten Dr. Mitri Raheb und ich für das Jahr 2000 einen Artikel für den Evangelischen Arbeitskreis Freizeit – Erholung – Tourismus in der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlicht.
Die Ausbildung von Tour Guides als akademische Aufgabe seit 2008
Schon seit 1997 hatte Dar Annadwa ReiseleiterInnen aus Palästina ausgebildet. Zwei Intensivkurse für palästinensische Guides und zwei Ausbildungskurse für Bethlehem 2000 BegleiterInnen wurden bis 2002 durchgeführt. Mit der Gründung des Dar Al-Kalima College 2006 begann eine neue Ära unter der Leitung von Dr. Nuha Khoury. Denn 2008 wurde die Ausbildung zum „Palestinian Tour Guide“ auch vom Bildungsministerium akkreditiert. Akademische Kurse wurden eingeführt und das Curriculum entsprechend ausgerichtet.
Dar Al-Kalima Fachhochschule für Kunst und Kultur, Fachbereich Tourismus (auf Arabisch)
Die Ausbildung wurde um Sprachkurse ergänzt, die von Anfang an auf die Vermittlung von geopolitischen Fakten wie auch auf die Vermittlung von Kulturerbe ausgerichtet waren. Mit meiner Mitarbeit ab 2010 waren die historischen Viertel von Bethlehem erneut praktisches Übungsfeld. Die Ideen und Grundlagen der Intensivkurse kamen wieder zum Einsatz. Wichtige Funktion hatten die Koordination des Kurses und die Betreuung der Studierenden, wobei Dafer Kassis und Sami Abu Ghazaleh besonders hervorzuheben sind.
Bethlehem auf den zweiten Blick – Rundgänge durch die historischen Viertel Bethlehems
Hinweis: Visit Palestine hat die Rundgänge eingestellt. Für andere Buchungsmöglichkeiten wenden Sie sich bitte an mich.
Exkursionen als Entdeckungsreisen zum palästinensischen Kulturerbe
Für viele Teilnehmende waren Exkursionen, auch in der direkten Umgebung von Dar Annadwa, prägende Erlebnisse der bisher unbekannten Heimat. Als einer unserer Dozenten am Checkpoint festsaß, verlängerte ich kurzentschlossen einen Besuch in Battir. Nicht nur die Geschichte von Beitar, sondern auch die von Hasan Mustafa und Battir 1948/49 trat uns allen vor Augen. Seitdem gehört ein ausführlicher Besuch in Battir zum Standard der Ausbildung. Deshalb entdecken Studierende gerade auch dort die Verknüpfung von Geschichte und kreativem Widerstand.
Die Geschichte von Hasan Mustafa als Teil der Erzählung Battirs heute (in Englisch):
Mein Vortrag vor der 7. Internationalen Konferenz von Diyar – Dar Al-Kalima 2013
Hier beschreibe ich sieben Gründe, warum Reisende das Dorf Battir besuchen müssen.
Dialogfähigkeit für eine aktive Zivilgesellschaft und die offene Begegnung mit Gästen
Ab 2011 führte ich ein Leadership-Training für Erstsemester ein. Teile des Konzepts beruhen auf einem Kurs für junge Erwachsene von Anette Klasing, die wie ich auch im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes in Bethlehem war. Junge Studierende konnten in diesem Training wichtige Fertigkeiten im Umgang mit Meinungsvielfalt, Zusammenarbeit und einer Kultur des Diskurses erlernen. Die Weiterentwicklung des Trainings wurde möglich durch die Zusammenarbeit mit dem Willy-Brandt-Center Jerusalem.
Willy-Brandt-Center Jerusalem: Raum für Begegnungen und Kultur, Social Justice and a Common Future!
Das Training schafft einen sicheren Raum, in dem gemeinsam Aufgaben gelöst werden und Dialoge über aktuelle Themen wie eine öffentliche Debatte durchgeführt werden. So werden Werte wie freie Meinungsäußerung an der Fachhochschule für Kunst und Kultur praktisch erfahren. Zugleich werden zukünftige Reiseleiter auf den Umgang mit den Vorinformationen ihrer Gäste vorbereitet.
„Ich habe jetzt begonnen, bei Dual-Narrativ-Führungen mitzuwirken. Dabei mache ich keine Abstriche an meiner palästinensischen Position, und spreche niemanden die Existenz ab. Ich mache meine Identität als palästinensischer Flüchtling deutlich. Ich fordere meine Gäste heraus. Dennoch merke ich, dass einige ihre Vorurteile beiseite legen und sich der Situation hier wirklich stellen.“
Noor Awad, Tour Guide und Dar Al-Kalima Absolvent 2012, dessen Großeltern aus ihrem Dorf bei Jerusalem 1948 fliehen mussten.
Was sind Erfolge der ReiseleiterInnen, ausgebildet in Bethlehem?
Die Zahlen der letzten Jahre sprechen für sich: 2015 waren es 16 Absolvent*innen, 2016 ebenfalls 16, 2017 21 und 2018 11. Im Jahr 2019 wurden 17 ReiseleiterInnen von Dar Al_Kalima in Bethlehem ausgebildet. Noch besser lassen sich Erfolge der Tour Guide-Ausbildung an den Erfolgsgeschichten der AbsolventInnen ablesen. Sie reichen von der erfolgreichen Firmengründerin einer Incoming-Agentur, über Angestellte in der Touristeninformation, Angestellte im Ministerium für kommunale Verwaltung, bis hin zu erfolgreichen Tour Guides, die inzwischen auch über das Internet gebucht werden können.
Michael Jackaman ist Dar Al-Kalima Absolvent und Tour Guide. Als michaeltours.com bietet er Touren an und schreibt seinen eigenen englischsprachigen Blog darüber. Zum Beispiel über Mar Saba, das uralte Kloster in der Wüste östlich von Bethlehem (auf Englisch).
Ein Student wechselte das Fach: Seine Abschlussarbeit in Dokumentarfilm wurde auf Filmfestivals ausgezeichnet. Andere AbsolventInnen studieren jetzt weiter Archäologie, Theologie oder Marketing. Doch ich betrachte es auch als Erfolg, wenn sich ein Absolvent von Dar Al-Kalima bewusst gegen eine geopolitische Erklärung, gegen die Formulierung einer palästinensischen Position oder gegen die Erklärung des Alltags unter Besatzung entscheiden muss!
„Ich respektiere dich als meinen Lehrer und Dar Al-Kalima als meine akademische Ausbildungsstätte. Aber ich mache es nicht so, wie ihr es mir beigebracht hat. Ich rede nicht über Politik, wenn ich eine Gruppe führe. Ich habe mich entschieden: Ich behalte diese Arbeit.“
EinE AbsolventIn von Dar Al-Kalima 2017, die/der in Bethlehem als Tour Guide arbeitet und die/den ich ein paar Jahre nach seinem Abschluss wieder traf.
ReiseleiterInnen werden in Dar Al-Kalima in Bethlehem auf den Dialog vorbereitet
Die AbsolventInnen haben sehr wohl ein Bewusstsein darüber, was sie können. Es fällt ihnen nicht leicht, das Richtige zu unterlassen. Genau das ist für mich eine Bestätigung dafür, dass es sinnvoll ist, die Zusammenhänge von Wissen über das Land und über die Bibel, von Geschichte und Geopolitik zu vermitteln. Auch die eigene Identität und die Rolle als ErklärerIn hängt zusammen, was von vielen TouristikerInnen und Veranstaltern von Heilig-Land-Reisen immer wieder bestritten wird.
„Auf den Wanderungen, die ich führe, geht es um Erholung, aber auch um die Landschaft, um die Geschichte, die sich hier abgespielt hat, um das geopolitische Setting damals und heute. Dem gehe ich nicht aus dem Weg: Auf der Wanderung treffen wir an einem ungefährlichen, berechenbaren Ort der Grenztruppe, die mich – wie immer – überprüfen wird. So erleben meine Gäste ein kleines Stück von der Besatzung.“
Hazem Bannoura, Tour Guide und Absolvent 2012, hatte sich ein Erlebnis während der Ausbildung als Modell für seine Wanderungen genommen.
Was fehlt noch, um die ReiseleiterInnen-Ausbildung zur Wirkung zu bringen?
Für die sogenannten lokalen Tour Guides fehlt ein System, sie effektiv für jede Gruppe einzusetzen, die nach Palästina oder in die betreffende Stadt kommt. Lokale Organisationen müssen hier in den Wettbewerb mit der örtlichen Tourismus-Industrie treten, die vor allem als Subunternehmer der israelischen Tourismusindustrie fungiert.
Außerdem fehlt ein Standard und dessen Prüfung, d.h. Indikatoren für die Qualität des Besuches oder Aufenthaltes der Reisenden. Jeder Veranstalter kann behaupten, fair mit der Situation umzugehen. Es gibt keine neutrale Prüfungsinstanz. Es gibt auch keine Instanz in Palästina, die eine zutreffende Darstellung für Palästina bescheinigen könnte. Deshalb besteht eine Lücke zwischen den Möglichkeiten, neue Eindrücke durch eineN gut ausgebildeteN einheimischeN Tour Guide zu gewinnen und Palästina zu verstehen einerseits, und der üblichen Bestätigung der bekannten Informationen und Vorurteile andererseits. Genau diese bestätigende Blase bieten die meisten Bildungsreisen in Palästina bisher an.
„Unsere Ausbildungen sind deshalb so speziell, weil sie das Bewusstsein über die Palästinensische Identität stärken. Das palästinensische Volk ist Erbe aller Völker und Zivilisationen, die in diesem geographischen Gebiet gelebt haben vom frühgeschichtlichen Palästina bis heute.“
Sami Abu Ghazaleh 2020, Absolvent „Intensive Course for Palestinian Guides“ 1999, Koordinator der Diplom-Ausbildung (Associate Diploma) „Palestinian Tour Guide“ an der Fachhochschule für Kunst und Kultur, Dar Al-Kalima, Bethlehem
Letzteres Zitat stammt von Sami Abu Ghazaleh, den ich für meinen Artikel um eine Stellungnahme zur aktuellen Situation der Ausbildung gebeten hatte. So ähnlich könnte es aber auch Dr. Nuha Khoury gesagt haben, die akademische Leiterin an der Fachhochschule Dar Al-Kalima in Bethlehem ist. Ich habe aus meinen Erfahrungen heraus, und basierend auf meinen Gesprächen vor Ort, ein paar Herausforderungen formuliert, vor denen die Ausbildung von ReiseleiterInnen in Bethlehem heute steht. Zwei greife ich hier heraus. Mehr über die Geschichte der Ausbildung seit 1997 und ihre Besonderheiten schreibe ich in einem anderen Beitrag.
Vor welchen Herausforderungen steht die Qualifzierung palästinensischer ReiseleiterInnen und Tour Guides?
Der Tourismus in Palästina ist weiterhin Pilgertourismus. Dar Annadwa hat darin immer die Chance gesehen, die verschiedenen Bereiche des Pilgerns sinnvoll zu verknüpfen: Bibel, biblische Geschichten und Glaube; Geschichte, Archäologie und kulturelles Erbe; religiöse Erfahrung, Vielfalt und Koexistenz – all das ist verbunden. Reisende können das in Westasien bzw. gerade im Heiligen Land beispielhaft erleben.
Dazu brauchen sie kompetente Begleitung und Erklärung. Und sie brauchen sinnvolle Programme, nachhaltige und faire Produkte sowie gutes Management. Deshalb ist es für die Fachhochschule Dar Al-Kalima wichtig, die ReiseleiterInnen-Ausbildung durch ein BA zu erweitern. Und genau das passiert jetzt.
Der Umgang mit Vorurteilen, gefilterten Informationen und einseitiger Berichterstattung benötigt eine ausgeprägte Dialogfähigkeit. Diese kann in geschützten Räumen erprobt und erlebt werden. Für die Fachhochschule bedeutet das, weiterhin Kurse oder Leadership-Trainings zu gestalten, die freie Meinungsäußerung, Meinungsvielfalt und Diskurse ermöglichen. Das kann ich nur dringend empfehlen. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass wir mit aufmerksamen Zuhören weiter kommen.
Vielleicht ein passendes Geschenk zu Advent, Weihnachten und Epiphanias: Hier können Sie die Ausgabe i&p II/III 2020 mit meinem vollständigen Artikel bestellen.
Hier können Sie Bildungsprogramme der Fachhochschule Dar Al-Kalima unterstützen.
Hier finden Sie Informationen des Dar Al-Kalima University College (in Englisch).