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Selbstbewusste GastgeberInnen ausbilden – 25 Jahre kulturelle Bildung für Palästina

Angefangen hat es 1995 mit Fort- und Weiterbildung im Internationalen Begegnungszentrum Dar Annadwa Adduwaliyya („Haus der Begegnung“) in Bethlehem. Inzwischen gibt es die Fachhochschule für Kunst und Kultur Dar Al-Kalima („Haus des Wortes“). Und unter dem Dach von Diyar („Häuser“) findet Teamsport, Tanztheater und kulturelle Bildung für Kinder und Jugendliche statt, insbesondere für Mädchen. Auch GastgeberInnen, oder besser ReiseleiterInnen, werden in Bethlehem ausgebildet.

Die Ausbildung palästinensischer Tour Guides
von 1997 bis 2020

Aus diesem Anlass hat der Förderverein Dar Al-Kalima Akademie Bethlehem e.V. einen kleinen Band mit interessanten Artikeln herausgebracht. Dazu konnte ich einen Artikel über die Ausbildung von ReiseleiterInnen in Bethlehem beisteuern. Das ist die Gelegenheit, auf die Leistungen und Erfolge dieser Ausbildung zu blicken. Und auf unser (deutsches) Reiseverhalten dort vor Ort werfe ich auch einen Seitenblick. Mehr dazu später in diesem Beitrag.

10 Beiträge zur Arbeit von Dar Al-Kalima in Bethlehem

In der Zeitschrift für Dialog „Israel&Palästina“ des deutsch-isralischen Arbeitskreises für Frieden in Nahost, Ausgabe II-III 2020, schreiben Menschen, die vor Ort mitgewirkt haben oder geforscht und sich mit anderen in Bethlehem über Kultur, Theologie und Kunst auseinandergesetzt haben. Besonders interessant sind Perspektiven von Pfarrer Dr. Mitri Raheb, der die „Reise von Dar Annadwa nach Dar Al-Kalima“ anhand schwieriger Herausforderungen nachzeichnet. Das gilt auch für den Vortrag von Bischof a.D. Hans-Jürgen Abromeit, mit dem er im Bonhoefferzentrum Bielefeld 2019 die Stadt Bethlehem vorstellte – „Faszination und Konflikt: Das ambivalente Erbe einer Heiligen Stadt“.

Der Förderverein Bethlehem-Akademie Dar Al-Kalima e.V. unterstützt die Bildungsarbeit in Bethlehem.

Der deutsch-isralischer Arbeitskreis für Frieden in Nahost ist auch unter seinem Kürzel diAk e.V. bekannt.

Die Zeitschrift für Dialog „Israel&Palästina“ will Israel, Palästina und Deutschland zusammen denken.

Hinzu kommen Artikel über Fragen zu kontextueller Theologie, Konferenzen, Arbeit für Frauen, über das Frauen-Fussballteam, und über die Vereinsarbeit in Deutschland. Der Aphorisma-Verlag hat die 10 Artikel in einer Doppelnummer der Zeitschrift „Israel und Palästina“ veröffentlicht.

Hier können Sie die Ausgabe i&p II/III 2020 bestellen oder das Inhaltsverzeichnis herunterladen.

Ich möchte einen wichtigen Aspekt meines Artikels herausgreifen. Palästinensische kirchennahe Organisationen und Initiativen haben immer wieder gefordert, dass Besuchende, Pilger und Bildungsreisende, anders ins Heilige Land reisen sollen. Was haben aber die Menschen in Palästina dazu beigetragen? Konnten die Bildungsinstitutionen vor Ort einen Beitrag dazu leisten? Wozu wurden ReiseleiterInnen in Bethlehem ausgebildet? Was bieten Reiseleiter – Tour Guides – in Bethlehem an?

Hier geht es zu Informationen über anderes Reisen: Initiative für einen fairen Austausch mit Palästina auch im Tourismus

Die Einladung nach Bethlehem steht

Lange Zeit war Bethlehem in den Reiseprogrammen eine kurze Station zwischen Hebron und Jerusalem. Später wurde es zu einem halben Tag neben Besuchen in Jerusalem, in vielen Bildungsreisen neben Yad VaShem. Die Einladung und die Möglichkeit, unter anderen Vorzeichen nach Bethlehem zu kommen und dort mehr Zeit zu verbringen, gibt es schon länger. Bereits 1996 wurde Dar Annadwa für sein Angebot mit dem TODO! Preis für sozialverantwortlichen Tourismus ausgezeichnet. Unter dem Titel „Palästinas Fenster zur Welt“ hatten Dr. Mitri Raheb und ich für das Jahr 2000 einen Artikel für den Evangelischen Arbeitskreis Freizeit – Erholung – Tourismus in der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlicht.

TODO! Wettbewerb Sozialverantwortlicher Tourismus, Begründung für den 1.Preis 1996 für Dar Annadwa, Bethlehem

Die Ausbildung von Tour Guides als akademische Aufgabe seit 2008

Schon seit 1997 hatte Dar Annadwa ReiseleiterInnen aus Palästina ausgebildet. Zwei Intensivkurse für palästinensische Guides und zwei Ausbildungskurse für Bethlehem 2000 BegleiterInnen wurden bis 2002 durchgeführt. Mit der Gründung des Dar Al-Kalima College 2006 begann eine neue Ära unter der Leitung von Dr. Nuha Khoury. Denn 2008 wurde die Ausbildung zum „Palestinian Tour Guide“ auch vom Bildungsministerium akkreditiert. Akademische Kurse wurden eingeführt und das Curriculum entsprechend ausgerichtet.

Dar Al-Kalima Fachhochschule für Kunst und Kultur, Fachbereich Tourismus (auf Arabisch)

Die Ausbildung wurde um Sprachkurse ergänzt, die von Anfang an auf die Vermittlung von geopolitischen Fakten wie auch auf die Vermittlung von Kulturerbe ausgerichtet waren. Mit meiner Mitarbeit ab 2010 waren die historischen Viertel von Bethlehem erneut praktisches Übungsfeld. Die Ideen und Grundlagen der Intensivkurse kamen wieder zum Einsatz. Wichtige Funktion hatten die Koordination des Kurses und die Betreuung der Studierenden, wobei Dafer Kassis und Sami Abu Ghazaleh besonders hervorzuheben sind.

Bethlehem auf den zweiten Blick – Rundgänge durch die historischen Viertel Bethlehems
Hinweis: Visit Palestine hat die Rundgänge eingestellt. Für andere Buchungsmöglichkeiten wenden Sie sich bitte an mich.

Der Förderverein unterstützt auch die Berufsausbildungen durch Dar Al-Kalima Fachhochschule in Bethlehem.

Exkursionen als Entdeckungsreisen zum palästinensischen Kulturerbe

Für viele Teilnehmende waren Exkursionen, auch in der direkten Umgebung von Dar Annadwa, prägende Erlebnisse der bisher unbekannten Heimat. Als einer unserer Dozenten am Checkpoint festsaß, verlängerte ich kurzentschlossen einen Besuch in Battir. Nicht nur die Geschichte von Beitar, sondern auch die von Hasan Mustafa und Battir 1948/49 trat uns allen vor Augen. Seitdem gehört ein ausführlicher Besuch in Battir zum Standard der Ausbildung. Deshalb entdecken Studierende gerade auch dort die Verknüpfung von Geschichte und kreativem Widerstand.

Die Geschichte von Hasan Mustafa als Teil der Erzählung Battirs heute (in Englisch):
Mein Vortrag vor der 7. Internationalen Konferenz von Diyar – Dar Al-Kalima 2013

Hier beschreibe ich sieben Gründe, warum Reisende das Dorf Battir besuchen müssen.

Dialogfähigkeit für eine aktive Zivilgesellschaft und die offene Begegnung mit Gästen

Ab 2011 führte ich ein Leadership-Training für Erstsemester ein. Teile des Konzepts beruhen auf einem Kurs für junge Erwachsene von Anette Klasing, die wie ich auch im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes in Bethlehem war. Junge Studierende konnten in diesem Training wichtige Fertigkeiten im Umgang mit Meinungsvielfalt, Zusammenarbeit und einer Kultur des Diskurses erlernen. Die Weiterentwicklung des Trainings wurde möglich durch die Zusammenarbeit mit dem Willy-Brandt-Center Jerusalem.

Willy-Brandt-Center Jerusalem: Raum für Begegnungen und Kultur, Social Justice and a Common Future!

Das Training schafft einen sicheren Raum, in dem gemeinsam Aufgaben gelöst werden und Dialoge über aktuelle Themen wie eine öffentliche Debatte durchgeführt werden. So werden Werte wie freie Meinungsäußerung an der Fachhochschule für Kunst und Kultur praktisch erfahren. Zugleich werden zukünftige Reiseleiter auf den Umgang mit den Vorinformationen ihrer Gäste vorbereitet.

Ich habe jetzt begonnen, bei Dual-Narrativ-Führungen mitzuwirken. Dabei mache ich keine Abstriche an meiner palästinensischen Position, und spreche niemanden die Existenz ab. Ich mache meine Identität als palästinensischer Flüchtling deutlich. Ich fordere meine Gäste heraus. Dennoch merke ich, dass einige ihre Vorurteile beiseite legen und sich der Situation hier wirklich stellen.“

Noor Awad, Tour Guide und Dar Al-Kalima Absolvent 2012, dessen Großeltern aus ihrem Dorf bei Jerusalem 1948 fliehen mussten.

Was sind Erfolge der ReiseleiterInnen, ausgebildet in Bethlehem?

Die Zahlen der letzten Jahre sprechen für sich: 2015 waren es 16 Absolvent*innen, 2016 ebenfalls 16, 2017 21 und 2018 11. Im Jahr 2019 wurden 17 ReiseleiterInnen von Dar Al_Kalima in Bethlehem ausgebildet. Noch besser lassen sich Erfolge der Tour Guide-Ausbildung an den Erfolgsgeschichten der AbsolventInnen ablesen. Sie reichen von der erfolgreichen Firmengründerin einer Incoming-Agentur, über Angestellte in der Touristeninfor­mation, Angestellte im Ministerium für kommunale Verwaltung, bis hin zu erfolgreichen Tour Guides, die inzwischen auch über das Internet gebucht werden können.

Michael Jackaman ist Dar Al-Kalima Absolvent und Tour Guide. Als michaeltours.com bietet er Touren an und schreibt seinen eigenen englischsprachigen Blog darüber. Zum Beispiel über Mar Saba, das uralte Kloster in der Wüste östlich von Bethlehem (auf Englisch).

Interview von Stefan Lemmermeier mit Baha Abu Shanab über seine Doku „Das Leben der Tauben“, mit Beschreibungen aus dem Film und mit begleitenden Texten.

Ein Student wechselte das Fach: Seine Abschlussarbeit in Dokumentarfilm wurde auf Filmfestivals ausgezeichnet. Andere AbsolventInnen studieren jetzt weiter Archäologie, Theologie oder Marketing. Doch ich betrachte es auch als Erfolg, wenn sich ein Absolvent von Dar Al-Kalima bewusst gegen eine geopolitische Erklärung, gegen die Formulierung einer palästinensischen Position oder gegen die Erklärung des Alltags unter Besatzung entscheiden muss!

Ich respektiere dich als meinen Lehrer und Dar Al-Kalima als meine akademische Ausbildungsstätte. Aber ich mache es nicht so, wie ihr es mir beigebracht hat. Ich rede nicht über Politik, wenn ich eine Gruppe führe. Ich habe mich entschieden: Ich behalte diese Arbeit.“

EinE AbsolventIn von Dar Al-Kalima 2017, die/der in Bethlehem als Tour Guide arbeitet und die/den ich ein paar Jahre nach seinem Abschluss wieder traf.

ReiseleiterInnen werden in Dar Al-Kalima in Bethlehem auf den Dialog vorbereitet

Die AbsolventInnen haben sehr wohl ein Bewusstsein darüber, was sie können. Es fällt ihnen nicht leicht, das Richtige zu unterlassen. Genau das ist für mich eine Bestätigung dafür, dass es sinnvoll ist, die Zusammenhänge von Wissen über das Land und über die Bibel, von Geschichte und Geopolitik zu vermitteln. Auch die eigene Identität und die Rolle als ErklärerIn hängt zusammen, was von vielen TouristikerInnen und Veranstaltern von Heilig-Land-Reisen immer wieder bestritten wird.

Auf den Wanderungen, die ich führe, geht es um Erholung, aber auch um die Landschaft, um die Geschichte, die sich hier abgespielt hat, um das geopolitische Setting damals und heute. Dem gehe ich nicht aus dem Weg: Auf der Wanderung treffen wir an einem ungefährlichen, berechenbaren Ort der Grenztruppe, die mich – wie immer – überprüfen wird. So erleben meine Gäste ein kleines Stück von der Besatzung.“

Hazem Bannoura, Tour Guide und Absolvent 2012, hatte sich ein Erlebnis während der Ausbildung als Modell für seine Wanderungen genommen.

Was fehlt noch, um die ReiseleiterInnen-Ausbildung zur Wirkung zu bringen?

Für die sogenannten lokalen Tour Guides fehlt ein System, sie effektiv für jede Gruppe einzusetzen, die nach Palästina oder in die betreffende Stadt kommt. Lokale Organisationen müssen hier in den Wettbewerb mit der örtlichen Tourismus-Industrie treten, die vor allem als Subunternehmer der israelischen Tourismusindustrie fungiert.

Außerdem fehlt ein Standard und dessen Prüfung, d.h. Indikatoren für die Qualität des Besuches oder Aufenthaltes der Reisenden. Jeder Veranstalter kann behaupten, fair mit der Situation umzugehen. Es gibt keine neutrale Prüfungsinstanz. Es gibt auch keine Instanz in Palästina, die eine zutreffende Darstellung für Palästina bescheinigen könnte. Deshalb besteht eine Lücke zwischen den Möglichkeiten, neue Eindrücke durch eineN gut ausgebildeteN einheimischeN Tour Guide zu gewinnen und Palästina zu verstehen einerseits, und der üblichen Bestätigung der bekannten Informationen und Vorurteile andererseits. Genau diese bestätigende Blase bieten die meisten Bildungsreisen in Palästina bisher an.

Unsere Ausbildungen sind deshalb so speziell, weil sie das Bewusstsein über die Palästinensische Identität stärken. Das palästinensische Volk ist Erbe aller Völker und Zivilisationen, die in diesem geographischen Gebiet gelebt haben vom frühgeschichtlichen Palästina bis heute.“

Sami Abu Ghazaleh 2020, Absolvent „Intensive Course for Palestinian Guides“ 1999, Koordinator der Diplom-Ausbildung (Associate Diploma) „Palestinian Tour Guide“ an der Fachhochschule für Kunst und Kultur, Dar Al-Kalima, Bethlehem

Letzteres Zitat stammt von Sami Abu Ghazaleh, den ich für meinen Artikel um eine Stellungnahme zur aktuellen Situation der Ausbildung gebeten hatte. So ähnlich könnte es aber auch Dr. Nuha Khoury gesagt haben, die akademische Leiterin an der Fachhochschule Dar Al-Kalima in Bethlehem ist. Ich habe aus meinen Erfahrungen heraus, und basierend auf meinen Gesprächen vor Ort, ein paar Herausforderungen formuliert, vor denen die Ausbildung von ReiseleiterInnen in Bethlehem heute steht. Zwei greife ich hier heraus. Mehr über die Geschichte der Ausbildung seit 1997 und ihre Besonderheiten schreibe ich in einem anderen Beitrag.

Vor welchen Herausforderungen steht die Qualifzierung palästinensischer ReiseleiterInnen und Tour Guides?

Der Tourismus in Palästina ist weiterhin Pilgertourismus. Dar Annadwa hat darin immer die Chance gesehen, die verschiedenen Bereiche des Pilgerns sinnvoll zu verknüpfen: Bibel, biblische Geschichten und Glaube; Geschichte, Archäologie und kulturelles Erbe; religiöse Erfahrung, Vielfalt und Koexistenz – all das ist verbunden. Reisende können das in Westasien bzw. gerade im Heiligen Land beispielhaft erleben.

Dazu brauchen sie kompetente Begleitung und Erklärung. Und sie brauchen sinnvolle Programme, nachhaltige und faire Produkte sowie gutes Management. Deshalb ist es für die Fachhochschule Dar Al-Kalima wichtig, die ReiseleiterInnen-Ausbildung durch ein BA zu erweitern. Und genau das passiert jetzt.

Der Umgang mit Vorurteilen, gefilterten Informationen und einseitiger Berichterstattung benötigt eine ausgeprägte Dialogfähigkeit. Diese kann in geschützten Räumen erprobt und erlebt werden. Für die Fachhochschule bedeutet das, weiterhin Kurse oder Leadership-Trainings zu gestalten, die freie Meinungsäußerung, Meinungsvielfalt und Diskurse ermöglichen. Das kann ich nur dringend empfehlen. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass wir mit aufmerksamen Zuhören weiter kommen.

Vielleicht ein passendes Geschenk zu Advent, Weihnachten und Epiphanias: Hier können Sie die Ausgabe i&p II/III 2020 mit meinem vollständigen Artikel bestellen.

Hier können Sie Bildungsprogramme der Fachhochschule Dar Al-Kalima unterstützen.

Hier finden Sie Informationen des Dar Al-Kalima University College (in Englisch).

Und hier schreibe ich über eine Reise, bei der ReiseleiterInnen, ausgebildet in Bethlehem von Dar Al-Kalima, mitgewirkt haben.

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Chancen und Herausforderungen der Tourismusentwicklung in einer Konfliktzone

Als ich zum zweiten Mal nach Battir kam, war mein Blick auf die Geschichte gerichtet. Und zwar in die Antike. Was ich dann aber sah, war überraschend schön: Ein ruhiges Dorf, am Berghang, mit Bäumen zwischen den Häusern, grünen, weil bewässerten Terrassen, und mit weiten Blick das Tal hinauf. Das hatte ich fast vergessen. Aufregend war auch die Nähe zur Demarkationslinie – also der Grenze des Westjordanlandes zu Israel, die so unglaublich nahe schien. Ja, es war geradezu verwirrend. Denn wo war dieses Waffenstillstandslinie genau? Dass sich hinter dieser Frage eine unglaubliche Geschichte verbirgt, wusste ich in diesem Moment noch gar nicht!

Das Beispiel Battir und
das UNESCO Welterbe „Olives and Vines“

Diese Geschichte vom kreativen Widerstand reicht bis ins Heute hinein. Sie ist ein Vermächtnis und eine Aufgabe für die heutigen Bewohner. Denn ohne die damaligen Aktionen gäbe es das Dorf gar nicht mehr. Und zugleich ist es eine Geschichte, die für die Gegenwart Hinweise gibt, was zu tun ist. Die Idylle von heute ist bedroht. Weil es möglich ist, Touristen hierher zu bringen, und Besuchern diese Geschichte – vielleicht sogar noch mehr Geschichten – zu erzählen, darum habe ich einen wissenschaftlichen Artikel geschrieben. Ich behaupte in diesem Artikel unter anderem, dass Narrative, dass Geschichten erzählt werden müssen, damit Tourismusentwicklung gelingen kann und zugleich diesem Vermächtnis gerecht wird.

Eine Zusammenfassung des Artikels in der Ausgabe „Tourism and Cultural Dynamics“ des Journals „Tourism, Culture & Communication“ finden Sie hier (auf Englisch).

Weil für die Mehrheit der Palästinenser die Ereignisse 1948, Vertreibung, Zerstörung und Verlust, bis heute eine höchst traumatische Sache sind, könnte man sagen: Nein, das wollen wir nicht schon wieder hören, oder schon wieder erzählen. Ich möchte sagen: Doch. Nicht nur, dass diese Geschichte erzählt werden muss, um die Situation vor Ort, und um die Menschen dort überhaupt zu verstehen. Sondern auch, weil – vor dem Hintergrund dieser traumatischen Ereignisse – eine andere Geschichte, eine Erfolgsgeschichte nämlich, erzählt werden muss.

In den 1950ern können die Bewohner des Dorfes ihr Battir schöner und zugleich zukunftsfähig machen: gemeinschaftliche Arbeit und Selbsthilfe für Entwicklung – eine spannende Geschichte.

Ich meine, sie muss erzählt werden, und dafür argumentiere ich in meinem Artikel. Ich behaupte, diese Geschichte gehört zu diesem Dorf dazu. Das Dorf Battir gibt es nur deshalb noch als lebendiges Dorf, weil es kreativen Widerstand gab! Und: Auch auf dem Hintergrund von An-Nakba – so nennen die Palästinenser „die Katastrophe“ 1948 – muss diese Geschichte nicht zu dunkel sein. Schließlich erzählt diese Geschichte von mutigen, geradezu unglaublichen Aktionen der Bewohner des Landes.

Eine Geschichte, die Mut macht
inmitten der Katastrophe

Zu einem „Schwarzen Tourismus“ (black tourism) wird es hier nicht kommen. Nicht etwa, weil Trauer und Schmerz im Tourismus nicht vorkommen dürfen. Erinnerung an schreckliche Ereignisse können immer zu Verantwortung und Zukunft führen. Nicht umsonst geht jede deutsche Besuchergruppe auch nach Yad VaShem, oder in eine andere Shoa-Gedenkstätte. Hier in Battir geht es um eine nicht minder große Frage: die Frage nach Widerstand, Gewalt und Kreativität.

Nicht zuletzt kann kreativer Widerstand unterdrückte Menschen erfolgreich darin unterstützen, ihre Geschichte auf neue Weise und in neuen Formen zu erzählen.

Mitri Raheb 2014 in seinem Buch „Glaube unter imperialer Macht“, S.193

Wie stellen wir sicher, dass diese Geschichte erzählt wird? Wie stellt Battir sicher, dass seine ureigenste Geschichte in einem Besuch vor Ort auch wirklich vorkommt? Darüber schreibe ich in einem Gastbeitrag beim Arbeitskreis Palästina in Brühl bei Bonn, der sich vor allem mit der Partnerstadt Brühls in Palästina beschäftigt: Battir. Dort behandele ich – wie auch in meinem wissenschaftlichen Artikel – das Thema Tourismusentwicklung in einem Konfliktgebiet.

Es gibt viele Gründe, nach Battir zu reisen – hier erkläre ich sieben Gründe.

Allerdings ist die Geschichte vom kreativen Widerstand in Battir nicht einfach. Sie ist nicht einfach zu erzählen, und beim Nachvollziehen lohnt es sich, aufmerksam zuzuhören. Leider werden diese Geschichten selten ausführlich und genau genug erzählt, auch vor Ort nicht. Zum anderen gibt es durchaus auch dort Vorbehalte und Diskussionen: War der Preis zu hoch? Will ich diese Geschichten überhaupt hören oder gar erzählen?

Die Eisenbahn als Lebensader
und als Bedrohung eines Dorfes

Bis heute haben die Bewohner Battirs eine positive Einstellung zur Eisenbahn durch ihre bewässerten Felder. Doch das ist nicht alles: Die Ortschaft hat ihren Zugang zur Eisenbahn 1948 komplett verloren. Die Menschen aus Battir, die für die Eisenbahn arbeiteten, haben damals ihre Arbeit verloren. Aber auch die Pendler, Studierenden und die Bäuerinnen waren betroffen. Trotzdem schützen sie die Eisenbahn bis heute, und halten sich an die Vereinbarung von 1949.

Eine ausführliche Darstellung der Aktionen in Battir, die Hasan Mustafa anregte und durchführte, stellt Jawad Botmeh in seiner Forschungsarbeit dazu dar. Du findest sie hier (auf Englisch).

Wenn wir bedenken, dass Battir eine Bahnstation hatte, dass Menschen aus Battir dort für die Eisenbahn gearbeitet haben; wenn wir bedenken, dass Battir Verbindungen zur religiösen und kulturellen Hauptstadt Palästinas, Jerusalem hatte, zur Hafenstadt Jaffa, zum zentralen Bahnhof Lid / Lod, von dem aus Kairo / Al-Qahira und Beirut und Damaskus / Dimaschq per Anschluss erreichbar waren; wenn wir bedenken, dass Battir und die umliegenden Dörfer vor 1948 Jerusalem direkt und frisch mit Gemüse, Kräutern und Früchten versorgen konnte – wenn wir das alles bedenken, dann ist der verlorene Zugang zur Eisenbahn ein sehr, sehr großer Verlust für Battir, ein hoher Preis für das Überleben gewesen.

Selbsthilfe eines Dorfes in der Konfliktzone: Entwicklung und Bildung

Plötzlich war Palästina geteilt, die Handelswege unterbrochen, die Eisenbahnlinien verschenkt, die Einwohner vertrieben, viele Dörfer verloren. Battir lag plötzlich in einer Konfliktzone. Aber es gab das Dorf noch! Die Reaktion auf den Verlust der Eisenbahnstation war eine große Anstrengung der Gemeinschaft in den 50er Jahren. Dabei ging es um Lebensgrundlagen und neue Möglichkeiten, Einkommen zu generieren. Dabei ging es um Gemeinschaftsarbeit und Bildung für Mädchen und Frauen. Und es ging um die Verbindung zur Welt und das Gesundheitswesen. Über diese Arbeit, Zukunft für das Dorf Battir zu schaffen, liest du hier.

Battir is a living example of what a community can do to help itself.

Hasan Mustafa 1959 in seinem Buch „Welcome to Battir“

Seit 1947 spätestens, liegt Battir in einer Konfliktzone. Und zwar paradoxerweise deshalb, weil es an einer Eisenbahnstrecke liegt, die damals hohen strategischen Wert besaß. Der Vorteil des Bahnhofs droht sich ins Gegenteil zu verkehren. Battir kann die Umstände nutzen, um kreativen Widerstand zu leisten. Deshalb meine ich, diese Geschichte muss Konflikt-transformatorisch erzählt, ja erklärt werden. Konflikttransformation, also (zivile) Konfliktbearbeitung, geht aktiv mit Ursachen eines Konflikts um und verändert, transformiert durch Arbeit die Situation in eine neue Situation.

Tourismusentwicklung in einer Konfliktzone: Kreativer Widerstand

Meist gelingt diese Transformation, diese Veränderung, durch Kommunikation, Dialog und dem Bruch mit typischen Handlungsmustern. Konflikttransformation und Tourismus überschneiden sich nicht einfach so automatisch. Es ist offensichtlich der Tourismus, der von der Abwesenheit von Gewalt profitiert. Dagegen ist in der Forschung nicht nachweisbar, dass Tourismus zum Frieden beiträgt. Doch ich bin auch überzeugt, dass die Geschichten vom kreativen Widerstand eine Chance sind, den Konflikt neu zu sehen und sein eigenes Verhalten zu hinterfragen.

Die Tourismusentwicklung kann auf eine positive Identität gründen. Tourismusentwicklung kann sich auf die eigenen Erfolge der Vergangenheit und der Gegenwart beziehen. Battir hat mit viel Aufwand die Antragstellung der „Abteilung für Archäologie und Kulturerbe“ des Palästinensischen Ministeriums für Tourismus und Kulturerbe bei der UNESCO unterstützt, diese Landschaft in Battir und zwischen Husan und Beit Dschala in die Liste des Welterbes aufzunehmen. Was für eine Chance, Menschen aus der ganzen Welt mit dem palästinensischen Kulturerbe und den Geschichten des Landes bekannt zu machen! Im übrigen bin ich überzeugt, dass wir mit aufmerksamen Zuhören weiter kommen.

Diesen Blogbeitrag auf andreas-kuntz.com kannst du kommentieren. Was denkst du darüber? Muss die unglaubliche Geschichte vom kreativen Widerstand erzählt werden?

Geteilte Geschichte(n) (Fortsetzung, in Arbeit)

7 Gründe warum es sich lohnt, Battir zu besuchen

Mein Gastbeitrag auf der Website des AK Palästina in Brühl (in Arbeit)

Die (englische) Zusammenfassung des Artikels „Battir: Creative Resistance in a Front Line—Opportunities and Dilemmas of Tourism Development in a Conflict Zone“

Eine Reise mit Wanderung nach Battir: Einerseits Erholung, andererseits die Geschichte vom kreativen Widerstand

Buchbesprechung Mitri Raheb: Glaube unter imperialer Macht (in Arbeit)

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